22.05.2024

Pionier in MV: Das Nahwärmenetz in Zemmin

Bericht über die Besichtigung am 23.04.24

Am 23.04.24 lud MVeffizient alle Interessierten zu einer Besichtigung des Nahwärmenetzes in Zemmin-Tutow ein. Das Thema Wärmeversorgung ist nicht nur für Kommunen und deren Bewohner/innen relevant, sondern zunehmend auch für Unternehmen. Und gerade im ländlichen Raum kann die benötigte Wärme häufig in Biomasseanlagen aus erneuerbaren Energiequellen erzeugt werden. Mit der Führung durch die Anlage in Zemmin und einem Vortrag zu den technischen Details wollten wir dieses Wissen im Land teilen, Akteure in MV vernetzen und zu neuen Wegen in der Wärmewende inspirieren.

Entsprechend heterogen war das Teilnehmerfeld: Neben mehreren Unternehmensvertretern waren auch Vertreter von Stadtwerken, Wohnungsbaugesellschaften, Bürgerenergiegenossenschaften, Kommunen und des Landkreises, aber auch des Netzbetreibers E.DIS und einige Energieberater gekommen, um sich über das noch innovative Konzept zu informieren.

Das engagierte Team um Michael Kühling, Geschäftsführer der Bürgerenergie Zemmin-Tutow GmbH & Co. KG, stellte bei einem Rundgang die Wärme- und Stromerzeugung im Detail vor. Im anschließenden Vortrag berichtete das Team sehr authentisch von der Entstehung der Idee, den ersten Planungen, den auftretenden Problemen, den Schwierigkeiten bei der Einholung der notwendigen Genehmigungen und der Beantragung von Fördermitteln. Das Projekt konnte aus mehreren Fördertöpfen finanziert werden: KfW, BAFA und den europäischen Programmen ELA und EFRE. Insgesamt lag die Förderquote bei 70 Prozent. Nur so konnte ein wettbewerbsfähiges Angebot gegenüber den Preisen für fossile Brennstoffe erreicht werden, denn zu Beginn der Planungen und auch zum Zeitpunkt der ersten Wärmelieferungen waren die Preise für fossile Energieträger noch deutlich niedriger als heute.

Zufriedenheit bei 100 Prozent

Die Realisierung des Projekts war nicht einfach, auch wegen des hohen bürokratischen Aufwands. Besonders langwierig war die komplexe Bearbeitung der Fördermittel. Dadurch entstanden extrem lange Zeiträume, in der die Investitionen vorfinanziert werden mussten, was zu zusätzlichen Kosten führte, die nicht unerheblich waren. Aber am Ende hat es geklappt – und nur das zählt. Seit Ende 2019 versorgt das Nahwärmenetz über 50 Wohngebäude, darunter zwei große Wohnblöcke mit allein mehr als 200 Wohnungen, und alle öffentlichen Gebäude der Gemeinde (Schule, Kita, Turnhallen, Gemeindezentrum) äußerst zuverlässig mit Wärme – und das zu inzwischen sehr günstigen Konditionen von 7,14 ct brutto pro KWh bei einer zehnjährigen Preisbindung für die Verbraucher/innen sowie die Gemeinde. Zusätzlich werden alle Gebäude und Stallungen des Landwirtschaftsbetriebes Kühling in Zemmin versorgt. Die Wärmeerzeugung und -lieferung funktioniert absolut zuverlässig. Denn eine Holzhackschnitzelanlage ergänzt das System und garantiert Versorgungssicherheit. Die Hackschnitzelheizungen arbeiten redundant, sie geben ihre Energie vollautomatisch nach Bedarf ab und schalten sich ab, wenn keine Energie benötigt wird.

Inzwischen wollen immer mehr Kunden an das Netz angeschlossen werden und es wird intensiv an einer Erweiterung geplant. So wird als nächstes ein Pflegeheim mit mehr als 100 Bewohner/innen angeschlossen. Dass die dort sehr hohen Anforderungen an die Wärmeversorgung von der Bürgerenergie GmbH & Co KG problemlos erfüllt werden können, zeigt, wie zuverlässig das Nahwärmenetz inzwischen funktioniert. Die Zufriedenheit aller Kunden ist so groß, dass inzwischen weitere 80 Häuser auf der Warteliste stehen.

Anlässlich eines Besuchs von Kommunalvertretern im Oktober 2022 sprach Michael Kühling in einem Interview mit der LEKA MV ausführlich über die Lernkurven bei Planung und Bau des Netzes, die Bedeutung der Kommunikation und den Aufwand und Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger und die Kommune. Das Interview kann auf der Webseite der LEKA MV nachgelesen werden.

Zu sehen, wie Geschäftsführer Michael Kühlung und sein Team das in Zemmin über Jahre aufgebaute Know-how offen teilten, ohne Schwierigkeiten und Probleme auszusparen, war für alle Besuchenden sehr inspirierend und motivierend. Zwischen den Teilnehmenden wurden Kontakte geknüpft, um auch in Zukunft im Erfahrungsaustausch zu bleiben. Es bleibt zu hoffen, dass das Projekt im Land Schule macht.

 

Für alle, die sich für die Technik im Detail interessieren, hier ein paar nähere Erläuterungen zum Nahwärmenetz:

„Ein Bauer mit einer Rohrzange kriegt fast alles hin.“ (Michael Kühling)

Die Wärme- bzw. Energieversorgung erfolgt über zwei Biogas-Blockheizkraftwerke (BHKW), bei denen es sich um sogenannte Otto-Gasmotoren handelt. Der Brennstoff Biogas stammt aus den Fermentern der Biogasanlage. Es wird über einen Aktivkohlefilter gereinigt und über einen Gasmischer dem Motor zugeführt. Im Brennraum des Motors wird das methanhaltige Gas verbrannt und treibt einen Generator an. Dieser erzeugt elektrische Energie, die in das Netz des örtlichen Energieversorgers eingespeist wird. Die Stromerzeugung in den Blockheizkraftwerken erfolgt CO2-neutral, da das bei der Verbrennung freigesetzte Kohlendioxid zuvor durch die pflanzlichen Substrate der Atmosphäre entzogen wurde. Die BHKWs speisen in das Stromnetz ein und erzeugen jeweils 549 kW elektrischen Strom pro Stunde, was rechnerisch ausreicht, um ca. 1.800 Haushalte täglich mit erneuerbarer elektrischer Energie zu versorgen.

Zusätzlich liefern die Blockheizkraftwerke ca. 580 kW thermische Energie pro Stunde. Die Wärme wird hauptsächlich über so genannte Abgaswärmetauscher gewonnen. Hier wird die Abgastemperatur von 550 Grad Celsius ausgekoppelt  und auf warmes Heizwasser übertragen. Der Gesamtwirkungsgrad steigt dadurch auf über 93 %, was ein sehr hoher Wert ist.

Die Wärme wird im Nahwärmenetz ausgekoppelt und zu den Verbrauchern transportiert. Das Nahwärmenetz besteht aus Vor- und Rücklaufleitungen mit einem Durchmesser von bis zu 150 mm, die Haupt- und Nebentrassen haben eine Gesamtlänge von 6 km. Die Wärmeenergie wird in Form von ent-ionisiertem Heizwasser mit einer Temperatur von ca. 85°C mittels Umwälzpumpen zu den Verbrauchern gepumpt. Anschließend wird es mit einer Rücklauftemperatur von ca. 60°C zurückgeführt. Die relativ hohe Rücklauftemperatur hat sich in Zemmin im Laufe der Zeit als diejenige erwiesen, die für die Wärmeauskopplung der beiden BHKW`s am effizientesten funktioniert.

Eine intelligente Steuerung regelt den Wärmefluss und den Kreislauf im gesamten Netz. Von hier aus hat das Team Zugriff auf die einzelnen Übergabestationen, kann durch individuelle Einstellungen auf Kundenwünsche eingehen, Zählerstände ablesen und Pumpenströme regeln. Vor allem für die kommunalen Gebäude lassen sich so Verbräuche und Kosten sehr gut überwachen. In der Leitstelle werden auch Störungen ausgelesen und dank Mobilfunkkopplung schnell erkannt. Die meisten Probleme können so sehr schnell behoben werden, meist merken die Kunden solche Störungen gar nicht. Dieser hohe Automatisierungsgrad trägt auch zur hohen Effizienz der Anlage bei.

Die Holzhackschnitzelanlagen dienen der Redundanz und der zusätzlichen Wärmeerzeugung. An sehr kalten Tagen können sie auf Knopfdruck zusätzlich Wärme liefern. Der Hackschnitzelvorrat reicht aus, um die Kessel bei Volllast ca. 3 Tage mit Brennstoff zu versorgen. Jeder der beiden Hackschnitzelkessel liefert dabei 330 kW/h thermische Energie. Sollte also einmal ein BHKW ausfallen, können die Hackschnitzelkessel dessen Leistung vollständig kompensieren. Zusätzlich gibt es noch zwei Notkesselanlagen mit über 1000 kW/h Leistung. Damit ist die gesamte Abnahmeleistung sogar doppelt vorgehalten, was eine hohe Sicherheit und Zuverlässigkeit im gesamten Netz gewährleistet.

Ökologische und ökonomische Energieversorgung

Die Biogasanlage wird mit nachwachsenden Rohstoffen aus der Region betrieben. Zusätzlich wird Schweinegülle aus dem landwirtschaftlichen Betrieb vergoren. Diese ist die Grundlage für einen optimalen und stabilen Gärverlauf. Das Gemisch aus Silomais und Gülle hat im Fermenter eine Verweildauer von 180 Tagen und wird alle 40 Minuten durch eine „Fütterung“ aufgefrischt. Die Bakterien bauen die Bestandteile in ihre chemischen Grundnährstoffe ab. Neben dem Biogas, mit dem die Blockheizkraftwerke betrieben werden, entsteht wertvoller Dünger, der wiederum wichtige Nährstoffe für die weitere landwirtschaftliche Produktion liefert.

So schließen sich die Rohstoffkeisläufe, die Wertschöpfung bleibt in der Region und die Abhängigkeit von globalen Energie- und Rohstoffmärkten sinkt. Eine Win-Win-Situation für den Landwirtschaftsbetrieb Kühling, für die Bürgerenergie Zemmin-Tutow GmbH & Co. KG, die Gemeinden und nicht zuletzt für alle Mitarbeitenden und ihre Familien.

Impressionen der Besichtigung